~ STORYS ~


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..::Die Frau, die das Land der Toten besuchte::..

Es war einmal eine alte Frau. Sie wohnte zusammen mit ihren Söhnen in einem Hause. Das Haus stand auf einem Wohnplatz, auf dem es im  ganzen nur zwei Behausungen gab. Eines Tages kam ihr jüngster Sohn nicht mehr vom Fang zurück. Die Mutter wurde von tiefer Trauer befallen. Als auch noch ihr zweiter Sohn verunglückte, war sie ganz verzweifelt. Sie weinte und weinte, den ganzen Tag, die ganze Nacht, und es wurde Morgen, und sie weinte immer noch. Gegen Abend des anderen Tages verlor sie das Bewußtsein. Die Leute glaubten, sie wäre tot. 
Die alte Frau aber merkt plötzlich, daß sie auf dem Weg ins Land der Toten ist. Sie sieht ein großes Loch im Himmel. Sie kriecht dort oben hindurch. Sie geht und geht immer weiter, und sie weiß nicht, wohin sie geht. Da kommt sie zu einem großen Stein. Der dreht sich und versperrt ihr den Weg. Unter dem Stein sind viele Menschenknochen, und der Stein selbst ist voller Blut. Sie sieht keinen Menschen, aber sie hört eine Stimme rufen: 
"Ist es ein Toter, der da kommt?" 
Sie hat noch gar keine Zeit zum Antworten bekommen, als sie ihre Großmutter erblickt. Die war vor vielen Jahren gestorben. Und die Großmutter kommt zu ihr hin und sagt: "Du mußt der Stimme antworten: Ich bin kein toter, ich bin ein lebender Mensch!" 
Als die alte Frau das getan hat, darf sie weitergehen. Sie kommt zu einem Haus. Sie folgt jetzt ihrer Großmutter und beide schauen zum Hauseingang hinein. Sie sehen, daß er voller Wasser steht. Der einzige Weg, der hinüberführt, ist so schmal wie ein Riemen aus dem Fell einer Großkobbe. Und sie bleiben stehen und hören, wie eine Stimme im Hause ruft: 
"Kommt da ein Toter gegangen?" 
Und ihre Großmutter sagt, daß sie antworten soll: "Nein, ich bin ein Lebender!" 
Nun gehen sie ins Haus. Und kaum sind sie hineingekommen, da er-kennt die Frau auch schon ihre beiden Söhne. Und sie freut sich sehr. Aber da sieht sie, daß ihr jüngster Sohn an Füßen und Waden ganz mit Eis bedeckt ist, fast hinauf bis zu den Knien. Da geht sie zu ihm hin und entfernt all das Eis von seinen Beinen. Und der Sohn sagt zu ihr: 
"Schlecht geht es uns, wenn du so unbeherrscht über unseren Tod trauerst. Deine Tränen sind es, die an unseren Beinen zu Eis gefrieren." 
Darüber wird die Mutter sehr betrübt. Sie sieht, daß auch der älteste Sohn Eis an den Beinen hat, und sie fängt an, auch von seinen Beinen und Füßen das Eis zu entfernen. Da beginnt die Großmutter zu reden. Sie sagt: "Weine nun nicht mehr, wenn du nach Hause kommst, denn deine Trauer wird deinen Söhnen nur Leid bringen." 
Die alte Mutter bleibt noch eine Weile im Haus. Da hört sie eine Stimme. Als sie sich umdreht, da sieht sie ein junges Mädchen. Das greift nach einem abgenagten Knochen. Durch einen Riemen ist der gesteckt, der von einer Decke hängt. 
Die alte Frau sieht sie an und denkt: 
"Was macht die da bloß?" 
Ihre Großmutter versteht sofort diesen Gedanken und antwortet: 
"Sie wollte unten auf Erden niemals den Freudentanz mittanzen, darum muß sie das jetzt tun." 
Die alte Frau bleibt noch eine Weile im Haus und wundert sich sich über all die merkwürdigen Dinge, die sie sieht. Aber dann sagt die Großmutter zu ihr: 
"Du mußt jetzt wieder auf die Erde zurück, denn du bist noch nicht tot. Erst nach deinem Tode kommst du zu deinen Kindern hinauf." 
So leid es ihr auch tut, sie muß sich auf den Heimweg machen. Als sie aber noch überlegt, ob sie sofort aufbrechen soll, oder noch ein bißchen oben bleiben kann, da stößt sie die Großmutter einfach in den Himmelsraum hinaus. Sie kommt wieder zu dem großen Stein. Der dreht sich mahlend. Jetzt steht er still und sie kann leicht vorbeikommen. Da geht sie weiter bis zu dem großen Loch, das durch den Himmel geht. Hier trifft sie einen jungen Mann von ihrem Wohnplatz. Er will gerade durch das Loch nach oben klettern. Aber sie stößt ihn vor sich her und bekommt ihn mit nach unten. Er setzt sich zur Wehr, sie muß ihn geradezu mit Gewalt in ihr Haus stoßen. Als sie kurz zuvor zum Fenster hineingeschaut hatte, hatten die Leute seinen Körper bereits auf den Fußboden gelegt. Die Seele hatte den Körper verlassen und man glaubte, er sei tot. Als jetzt aber die Alte mit der Seele zurückkommt, da lebt er wieder auf. Auf dieselbe Weise, kriecht die Seele der alten Mutter nun in ihren eigenen Körper zurück. Der wird jetzt auch wieder lebendig, gerade in dem Augenblick, als die Leute endgültig glauben, daß sie tot sei. 
Aber nachdem sie nun ihre beiden Söhne gesehen hatte und wußte, daß sie nach dem Tode zu ihnen hinaufkommen und mit ihnen zusammen sein würde, lebte sie den Rest ihres Lebens in Freude. Und der junge Mann, dessen Leben sie gerettet hatte, brachte ihr ständig Fleisch, so daß sie ohne Sorgen bis an das Ende ihrer Tage leben konnte.

 

..::Das Land des Todes::..

In einem Dorf am unteren Yukon lebte eine junge Frau; sie wurde krank und starb. Als der Tod über sie kam, verlor sie für einige Zeit das Bewußtsein. Dann schüttelte sie jemand, daß sie erwachte und sprach zu ihr: "Steh auf, schlafe nicht; du bist tot!" Sie schlug die Augen auf, bemerkte, daß sie in einem Grabkasten lag und der Schatten ihres verstorbenen Großvaters neben ihr stand. Er streckte die Hand aus, um ihr zu helfen, sich aus dem Grab zu erheben und gebot ihr, sich umzusehen. Sie tat so und sah viel Leute, die sie alle erkannte, sich im Dorf herumtreiben. Dann drehte sie der alte Mann herum, mit dem Rücken gegen das Dorf und sie sah, daß die ihr so wohlbekannte Gegend verschwunden war; an ihrer Stelle lag ein unbekanntes Dorf da, das sich so weit, als ihr Blick nur reichte, erstreckte. Sie gingen in dieses Dorf und der alte Mann hieß sie in eines der Häuser eintreten. Als sie eintrat, hob eine alte Frau, die da saß, ein Holzscheit, um sie zu schlagen und fragte ärgerlich: "was willst du hier?" Schreiend lief sie hinaus und erzählte dem alten Mann von der Frau. Er erzählte: "Dies hier ist das Dorf der Hundeschatten und du hast nun gesehen, wie es den lebenden Hunden zumute ist, wenn sie von den Leuten geprügelt werden."

Sie gingen von da weiter und kamen an ein anderes Dorf, in dem ein großes Haus stand. Ganz in der Nähe dieses Dorfes sahen sie einen Mann am Boden liegen; aus allen seinen Gelenken wuchs Gras hervor und er konnte sich zwar bewegen, aber nicht aufstehen. Der Großvater erzählte, dieser Mann sei so bestraft worden, weil er Gras ausgerissen und Grasstengel gekaut hatte, als er noch auf Erden war. Nachdem sie einige Zeitlang diesen Schatten neugierig betrachtet hatte, wandte sie sich, um etwas zu sagen, nach ihrem Großvater. Er war aber verschwunden. Vor ihr lag ein Weg, der zu einem weiter entfernten Dorf führte. Sie folgte ihm und kam bald an einen reißenden Fluß, der ihren Weg versperrte. Dieser Fluß waren die Tränen der Leute, welche auf Erden die Toten beweinen. Als das Mädchen sah, daß sie nicht hinüber konnte, setzte sie sich ans Ufer und begann zu weinen. Wie sie ihre Augen trocknete, sah sie eine Menge Kehricht und Abfall, wie er aus den Häusern geworfen wird, den Fluß herabschwimmen und sich gerade vor ihr zusammenstauen. Wie auf einer Brücke überschritt sie darauf den Fluß. Kaum war sie am anderen Ufer, da verschwand das Zeug und sie ging ihren Weg weiter. Bevor sie noch das Dorf erreichte, hatten die Schatten sie bemerkt und riefen: "Es ist jemand angekommen." Als sie hin kam, umdrängten sie die Schatten und fragten: "Wer ist sie? Von wo kommt sie?" Sie besahen ihre Kleider und fanden die Totemzeichen, die ihre Stammeszugehörigkeit anzeigten; in alten Zeiten hatten nämlich die Leute ihre Totemzeichen an ihren Kleidern und anderen Gegenständen, so daß man daran die Mitglieder eines jeden Dorfes und jeder Familie erkennen konnte.

Da rief jemand: "Wo ist sie, wo ist sie denn?" und sie sah den Schatten ihres Großvaters auf sich zukommen. Er nahm sie bei der Hand und führte sie in der Nähe in ein Haus. An der Rückwand saß eine alte Frau, die etwas murmelte und dann sagte: "Komm und setze dich zu mir!" Es war ihre Großmutter und sie fragte das Mädchen, ob es nicht etwas trinken wolle und fing gleichzeitig an zu weinen. Das Mädchen wurde ganz traurig, sah sich um und bemerkte einige ganz merkwürdige Wassereimer, von denen nur ein einziger, der fast leer war, so wie die in ihrem Dorf aussah.

Die Großmutter riet ihr, nur aus diesem zu trinken, denn darin sei ihr gewohntes Yukonwasser, während die anderen alle mit dem Wasser des Totendorfes gefüllt seien. Als sie dann hungrig wurde, gab ihr die Großmutter ein Stück Renntierfleisch, das ihr Sohn, der Vater des Mädchens, ihr einst bei einem Totenfest zugleich mit dem Wassereimer, aus dem sie eben getrunken habe, gegeben.

Die Großmutter erzählte dem Mädchen noch, daß ihr Großvater ihr Führer geworden sei, weil sie im Sterben an ihn gedacht hatte. Wenn ein Sterbender nämlich an seine verstorbenen Verwandten denkt, vernimmt man das im Schattenreich und derjenige, dessen der Sterbende gedenkt, beeilt sich, dem neuen Schatten den Weg zu weisen.

Als für das Heimatdorf des toten Mädchens die Zeit des Totenfestes kam, wurden, wie gewöhnlich, zwei Boten ausgesandt, um die Bewohner der Nachbardörfer einzuladen. Nach einem der Dörfer gingen die Boten lange Zeit, und bevor sie es noch erreichten, überraschte sie die Dunkelheit; endlich hörten sie aber vom Festhaus her Tanzlärm und Trommelschlag. Sie traten ein und überbrachten den Leuten ihre Einladung zum Totenfest.

Hier saßen die Schatten des Großvaters und der Großmutter und zwischen ihnen der des Mädchens unsichtbar bei den Leuten und als am nächsten Tag die Boten in ihr Heimatdorf zurückkehrten, folgten ihnen, immer unsichtbar, die Schatten. Als da das Fest schon fast zu Ende war, wurde der Mutter des toten Mädchens Wasser gereicht und sie trank davon. Dann gingen die Schatten aus dem Festhaus, um zu warten, bis bei der Zeremonie, bei welcher die Namensvetter der Toten ihre Kleider annehmen, ihre Namen aufgerufen würden.

Wie die Schatten dazu also aus dem Haus gingen, gab der alte Mann dem Mädchen im Eingang einen Stoß, sodaß sie umfiel und ihr Bewußtsein verlor. Als sie wieder erwachte, sah sie sich um und fand sich allein. Sie erhob sich, stellte sich im Eingang unter die Lampe und wartete auf die anderen beiden Schatten, um sich ihnen anzuschließen. Sie wartete da, bis alle Lebenden in den schönen neuen Kleidern herauskamen, aber von ihren Schattengefährten sah sie keinen.

Bald darauf kam ein alter Mann mit einem Stock hereingehumpelt, und als er aufsah, bemerkte er den Schatten, dessen Füße mehr als eine Spanne hoch über dem Boden schwebten. Er fragte, ob das eine Lebende oder ein Schatten sei, bekam aber keine Antwort und ging rasch ins Haus hinein. Hier sagte er den Männern, sie sollten rasch hinauslaufen und das fremde Wesen im Eingang, dessen Füße den Boden nicht berühren, und das nicht aus dem Dorf sei, ansehen. Alle liefen hinaus und als sie sie sahen, stellten einige ihre Lampen nieder und in ihrem Schein wurde sie erkannt und lief nun ins Haus ihrer Eltern.

Wie man sie da eintreten sah, glich sie in Gestalt und Farbe völlig einer Lebenden, aber sowie sie sich niedersetzte, erblaßte ihre Farbe und sie schwand dahin, bis sie nichts war als Haut und Knochen und zu schwach war, um sprechen zu können.

Frühmorgens des nächsten Tages starb ihre Namensvetterin, eine Frau aus demselben Dorf und ihr Schatten ging anstelle des Mädchens, welches wieder zu Kräften kam und noch viele Jahre lebte, ins Land des Todes.

 

..::Das stumme Buch::..

Andersen, Hans Christian (1805-1875)
"Die Folianten vergilben, der Städte gelehrter Glanz erbleicht,
aber das Buch der Natur erhält jedes Jahre eine neue Auflage"


An der Landstraße im Walde lag ein einsamer Bauernhof. Man mußte mitten durch den Hofraum hindurch. Da schien die Sonne, alle Fenster standen offen. Leben und Emsigkeit herrschte innen. Aber im Hofe, in einer Laube aus blühendem Flieder, stand ein offener Sarg. Der Tote war hier hinausgesetzt worden, denn am Vormittag sollte er begraben werden. Niemand stand und blickte voll Trauer auf den Toten, niemand weinte um ihn. Sein Gesicht war von einem weißen Tuche bedeckt und unter seinem Kopfe lag ein großes dickes Buch, dessen Blätter jedes ein ganzer Bogen aus grauem Papier waren. Und zwischen jedem lagen, verborgen und vergessen, verwelkte Blumen, ein ganzes Herbarium, das an verschiedenen Orten zusammengesucht war. Das sollte mit ins Grab, das hatte er selbst verlangt. An jede Blume knüpfte sich ein Kapitel seines Lebens.

"Wer ist der Tote?" fragten wir, und die Antwort war: "der alte Student von Upsala! Er soll einst ein tüchtiger Mann gewesen sein, gelehrte Sprachen verstanden, Lieder singen und schreiben gekonnt haben, sagt man. Aber dann ist ihm etwas in die Quere gekommen, und er ersäufte alle seine Gedanken und sich selbst mit im Branntwein. Und als seine Gesundheit zerstört war, kam er hier auf das Land hinaus, wo für ihn ein Kostgeld entrichtet wurde. Er war fromm wie ein Kind, wenn nicht der schwarze Sinn über ihn kam, denn dann gewann er seine Kräfte wieder und lief im Walde umher wie ein gejagtes Tier. Aber wenn wir ihn wieder zu fassen bekamen und ihn dazu brachten, in dies Buch mit den trocknen Pflanzen hineinzuschauen, konnte er den ganzen Tag sitzen und eine Pflanze nach der anderen anschauen. Und oftmals liefen ihm die Tränen über die Wangen dabei nieder. Gott mag wissen, an was er dabei dachte! Aber das Buch bat er mit in seinen Sarg zu legen, und nun liegt es dort, und um eine kurze Stunde soll der Deckel zugeschlagen werden und er wird sanft im Grabe ruhen."

Das Leichentuch wurde gelüftet; es lag Frieden über dem Antlitz des Toten. Ein Sonnenstrahl fiel darauf, eine Schwalbe schoß in ihrem pfeilschnellen Fluge in die Laube und wendete sich im Fluge zwitschernd über des Toten Haupt.

Wie wunderlich ist es doch - wir kennen gewiß alle das Gefühl - alte Briefe aus unserer Jugendzeit hervorzunehmen und sie wieder zu lesen. Da taucht gleichsam ein ganzes Leben vor uns auf, mit all seinen Hoffnungen, all seinen Sorgen. Wie viele von den Menschen, mit denen wir in jener Zeit so herzlich vertraut zusammen lebten, sind für uns gestorben, obwohl sie noch leben. Aber wir haben lange Zeit nicht mehr an sie gedacht, von denen wir einstmals glaubten, daß wir stets mit ihnen verbunden bleiben und Freude und Leid mit ihnen teilen würden.

Das welke Eichenblatt im Buche hier erinnert an den Freund, an den Freund aus der Schulzeit, den Freund für das ganze Leben. Er heftete dieses Blatt an die Studentenmütze im grünen Walde, als der Freundschaftspakt fürs ganze Leben geschlossen wurde. - Wo lebt er nun? - Das Blatt wurde bewahrt, die Freundschaft vergessen! - Hier ist eine fremdartige Treibhauspflanze, zu fein für die Gärten des Nordens - es ist, als sei noch ein Duft über diesen Blättern. Sie gab sie ihm, das Fräulein aus dem adligen Garten. Hier ist die Wasserrose, die er selbst gepflückt und mit salzigen Tränen begossen hat, die Wasserrose aus den süßen Gewässern. Und hier ist eine Nessel. Was sagen ihre Blätter? Woran dachte er, als er sie pflückte, als er sie aufbewahrte? Hier ist das Maiglöckchen aus der Waldeinsamkeit; hier ist Jelänger-Jelieber aus dem Blumentopf in der Wirtsstube, und hier sind nackte scharfe Grashalme. Der blühende Flieder breitet seine frischen, duftenden Dolden über des Toten Haupt, die Schwalbe fliegt wieder vorüber: "Quivit! Quivit!" - Nun kommen die Männer mit Nägeln und mit dem Hammer, der Deckel wird über den Toten gelegt, der sein Haupt auf dem stummen Buche ausruht. Verwahrt - vergessen.

 

..::Eine Rose von Homers Grab::..

Andersen, Hans Christian (1805-1875)

In allen Liedern des Orients erklingt die Liebe der Nachtigall zu der Rose.
In den schweigenden, sternklaren Nächten bringt der geflügelte Sänger
seiner duftenden Blume eine Serenade dar. Nicht weit von Smyrna, unter den hohen Platanen,
wo der Kaufmann seine belasteten Kamele treibt, die stolz ihre langen Hälse erheben und schwerfällig über eine Erde stampfen, die heilig ist, sah ich eine blühende Rosenhecke.
Wilde Tauben flogen zwischen den Zweigen der hochstämmigen Bäume,
und die Flügel der Tauben glänzten,
wenn ein Sonnenstrahl darüber hinglitt, als seien sie aus Perlmutter gemacht.
In der Rosenhecke war eine Blüte von allen die schönste,
und für sie sang die Nachtigall von ihrem Liebesschmerz, aber die Rose war stumm,
nicht ein Tautropfen lag, wie eine Träne des Mitleidens, auf ihren Blättern,
sie neigte sich auf ihrem Zweige über einige große Steine.
"Hier ruht der Erde größter Sänger!" sagte die Rose,
"über seinem Grabe will ich duften, meine Blätter will ich darauf verstreuen,
wenn der Sturm sie mir abstreift. Der Ilias' Sänger ward zu Erde in dieser Erde, aus der ich sprieße! - Ich, eine Rose von Homers Grab, bin zu heilig, um für eine armselige Nachtigall zu blühen!"

Und die Nachtigall sang sich zu Tode!

Der Kameltreiber kam mit seinen beladenen Kamelen und seinen schwarzen Sklaven.
Sein kleiner Sohn fand den toten Vogel und beerdigte ihn in des großen Homers Grab;
und die Rosen bebten im Winde.
Der Abend kam.
Die Rose faltete ihre Blätter dichter zusammen und träumte,
- sie träumte, es wäre ein herrlicher Sonnentag.
Eine Schar fremder fränkischer Männer kam her,
sie hatten eine Pilgerreise zu Homers Grab gemacht.
Unter den Fremden war ein Sänger aus dem Norden, aus der Heimat der Nebel und Nordlichter. Er brach die Rose, preßte sie in einem Buche
und nahm sie so mit sich nach einem anderen Weltteil hinüber, mit nach seinem fernen Vaterland. Und die Rose welkte vor Kummer und lag in dem engen Buche,
das er in seinem Heim öffnete, und er sagte:

"Hier ist eine Rose von Homers Grab."

Sieh, das träumte die Blume und sie erwachte und zitterte im Windel
Ein Tautropfen fiel von ihren Blättern auf des Sängers Grab;
da ging die Sonne auf, und die Rose blühte schöner als zuvor.
Der Tag wurde heiß, es war ja im heißen Asien.
Da schallten Fußtritte, fremde Franken kamen, wie sie die Rose im Traume gesehen hatte,
und unter diesen Fremden war ein Dichter aus dem Norden;
er brach die Rose, drückte einen Kuß auf ihren frischen Mund,
und führte sie mit sich in die Heimat der Nebel und der Nordlichter.
Wie eine Mumie ruht nun die Blumenleiche in seiner llias,
und wie im Traume hört sie ihn das Buch öffnen und sagen:

"Hier ist eine Rose von Homers Grab!"